Direkt zum Hauptbereich

Im Hamsterrad der Selbstoptimierung



Im Sommer werde ich 59. Und obwohl ich mich nicht mal annähernd so fühle wie ich vor 25 Jahren gedacht hätte, dass man sich in diesem „biblischen Alter“ fühlt, ist mir durchaus bewusst, dass ich nicht mehr so fit bin wie mit Mitte 30. Und wisst ihr was? Ich darf das.


Bis dahin war es allerdings ein langer Weg. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als ich meinen Chef anrief, um ihm zu sagen, dass ich mit einem Burnout voraussichtlich länger ausfallen werde. Seine Antwort: „Dann sind Sie ja nie mehr so leistungsfähig wie vorher“. Nach dem Auflegen habe ich dann erstmal das HB-Männchen gegeben. Ich kreiste unter der Decke und war unglaublich wütend. Wie konnte er mir sowas unterstellen? Ich nicht mehr leistungsfähig? Pah! Ich würde wie Phönix aus der Asche und überhaupt leistungsfähiger als je zuvor aus der Sache hervorgehen.


Seine Reaktion war genauso wie meine völlig falsch. Was er vermutlich meinte: „Ups, wenn die jetzt in Therapie geht, dann sagt die womöglich anschließend auch mal nein, wenn ich ihr noch mehr Arbeit auf den Tisch lege. So ein Mist aber auch. Der konnte man doch immer alles auf den Tisch legen und die hat es ohne zu murren gemacht.“


Was mich dagegen so unglaublich wütend gemacht hatte, war ich selbst. Ich durfte einfach nicht weniger leistungsfähig sein. Wer nicht leistungsfähig war, der war in meinen Augen überflüssig. ICH war doch diejenige, die jede Herausforderung meisterte. Die alles konnte. Ohne die nix lief. Und ja, darüber habe ich mich definiert. Und jetzt erzählt der mir, dass ich das in Zukunft nicht mehr bin? Na, dem werde ich es zeigen.


Was ich heute weiß: Ich darf langsamer machen. Weil es nämlich völlig normal ist, dass man mit 58 nicht mehr so leistungsfähig ist wie mit 35. Weil es völlig normal ist, dass man mit 58 nicht mehr aussieht wie mit 35. Hätte ich vor 100 Jahren gelebt, wäre ich mit hoher Wahrscheinlichkeit schon tot. Gestorben an einer Lungenentzündung. Oder bei der Geburt eines meiner Kinder. Oder an der spanischen Grippe. Ich lebe noch, und ich lebe wahnsinnig gern. Und einfach etwas langsamer und mit viel weniger Stress als bis vor einigen Jahren.


Nicht mit weniger Spaß oder Neugier. Eher mit mehr. Weil ich heute nämlich viel mehr Ressourcen habe, um Dinge zu tun, die ich gern tu. Und gar nicht so wenige dieser Dinge haben keinen unmittelbaren „Nutzen“, sondern sind einfach nur schön.


Liest man sich so durch die sozialen Medien, geht das gar nicht. Da läuft nämlich spätestens mit den Wechseljahren die Selbstoptimierung bitteschön auf Hochtouren. War bis dahin Body Positivity angesagt, gilt es ab der Perimenopause, strengstens darauf zu achten, dass kein „Menobauch“ entsteht, dass man Kraftsport bis zum Abwinken macht, weil ja ansonsten die Muskeln, die man ohnehin nicht hatte, völlig erschlaffen. Fit wie ein Turnschuh hat man zu sein, Sixpack statt Schwabbel ist spätestens jetzt angesagt. Alles nicht mehr im Namen der Schönheitsideale - die haben wir ja längst hinter uns gelassen. Diesmal optimieren wir unseren Körper bitteschön im Namen der Gesundheit.


Dazu sollten dann, wenn nicht Hormone, dann doch bitte Nahrungsergänzungsmittel im Dutzend kommen. Versteht mich nicht falsch: Wer unter den Wechseljahren leidet und wem mit Hormonen geholfen werden kann: Ab dafür. Wer unter Nährstoffmangel leidet, der sollte supplementieren. Aber beides bitte unter ärztlicher Aufsicht. Mir wird regelmäßig anders, wenn ich sehe, dass auf Instagram locker flockig irgendwelche Dosierungen von Medikamenten oder NEM von Menschen empfohlen werden, die bis auf die Lektüre von zwei Büchern keinerlei medizinische Ausbildung haben.


Sind wir mit Figur und Pillen fertig fertig, geht es weiter mit der äußerlichen Optimierung, denn idealerweise sollten wir zwischen 50 und 60 bitte keinen Tag älter aussehen als mit maximal Ende 30. Und was Instagram-Filter nicht schaffen, dafür hat der liebe Gott ja Botox und Hyaluron erfunden. Ich meine: Wie schlimm wäre es, denn, wenn ich mit 58 aussähe als wäre ich 58? Womöglich auch noch müde nach einem langen Tag? Echt jetzt, das geht gar nicht. Warum nicht? Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur: Man hat laut den einschlägigen Influencern gefälligst frisch und möglichst faltenfrei auszusehen. Weil man es sich wert ist!


Ach ja, eins fehlt noch, wenn man auf der Selbstoptimierungs-Welle der Wechseljahre mitreiten möchte: Diverse Seminare und Workshops, in denen man das richtige Mindset erwirbt, um sich in sein höheres Selbst zu transformieren. Das ist nämlich gerade jetzt in den Wechseljahren total wichtig. Wer jetzt nicht bereit ist, endlich mal die beste Version seines Selbst zu werden, der ist raus.


Klingt anstrengend? Ist es auch. Das alles macht genau den Stress, den ich in meinem Leben nicht mehr haben will. Bei so viel Transformation stockt mir manchmal der Atem. Zumal wir Frauen zwischen 40 und 60 auch noch diverse andere Dinge zu schultern haben:


Die Kinder sind gerade mitten in der Pubertät oder in deren Ausläufer oder sie sind gerade dabei, sich auf eigene Füße zu stellen. Beides ist anstrengend. Sagt eine, die diverse Umzüge des Nachwuchses gemanged hat und sich ausbittet, das nie wieder tun zu müssen.

Die eigenen Eltern werden alt und, wenn es blöd läuft, pflegebedürftig. Wieder ein Problem, das in der Regel Frauen beansprucht. Im schlimmsten Fall folgen Trauerfälle, die man nicht so einfach wegsteckt.


Beruflich möchte man nebenbei vielleicht auch noch etwas ändern, weil man lange aus dem Beruf war oder endlich mehr Zeit hat, die man gern in seine Karriere stecken möchte. Und nicht zuletzt der Druck, der bei vielen Frauen dadurch entsteht, dass sich sich ständig vergleichen. Logisch, denn die sozialen Medien laden geradezu dazu ein.


Und ganz oben drauf dann noch Wechseljahrsbeschwerden? Na, vielen Dank. Das sind ungefähr 1000 Gründe dafür, gerade mal keine Energie zu haben, um gerade jetzt auf die Tube der Transformation zu drücken. Sondern einfach mal etwas langsamer zu machen und darüber nachzudenken, was einem nun gerade wirklich wichtig ist. Und vielleicht einfach damit glücklich zu sein.


Nicht getrieben durch unerreichbare Vorbilder den Sixpack anzustreben, sondern einfach nur spazieren zu gehen. Kein höheres Selbst zu affirmieren, sondern vielleicht einfach ein Leben, mit dem man zufrieden ist und in dem man abends mit einem Lächeln ins Bett geht. Und sich morgens im Spiegel schön zu finden, obwohl da schon wieder eine neue Falte ist. Nicht das „Mindset für mehr Erfolg shiften“, sondern auch mal Fünfe gerade sein lassen. „In sich ruhen“ nennt man das wohl.


Erlaubt es euch einfach mal. Es entspannt unglaublich. Ich habe gelernt, dass Leistungsfähigkeit zwar schön und gut ist, aber mein Alltag so viele tolle Dinge bereit hält, die mit Leistung gar nix zu tun haben. Und genau deshalb gehe ich jetzt ein Stunde lang lesen. Ganz ohne Leistung zu bringen. Völlig sinnloses Lesen und es ist nichtmal ein Sachbuch ;-)


Liebe Grüße

Fran

Kommentare

  1. Danke Fran. Das beschreibt es wohl sehr gut, was um einen herum so los ist. Und nicht vergessen, bei all dem Brimborium, Lächeln und glücklich sein was das Zeug hält.☺️
    Ich wünsche Dir einen entspannten sonnigen Feiertag, liebe Grüße Tina

    AntwortenLöschen
  2. Japp, japp und japp. Bei all der Selbstoptimierung wird nämlich vergessen zu leben. Und zwar ein Leben, das aller Wahrscheinlichkeit nach kürzer sein wird als der Teil davor.
    Dein Beitrag könnte ein Gespräch mit mir gewesen sein.
    Hab es fein
    Liebe Grüße
    Nicole

    AntwortenLöschen
  3. Ganze Wirtschaftszweige leben davon, uns einzureden, dass wir nicht gut genug sind. Und dann kommst du einfach daher und wischst das so eben mal vom Tisch - wie sollen die denn jetzt Geld verdienen? Schäm dich 😉

    AntwortenLöschen
  4. Du bringst es mal wieder auf den Punkt. Das Leben ist zu kurz, um ständig an der Selbstoptimierung zu arbeiten statt zu leben.

    Liebe Grüße
    Sabine

    AntwortenLöschen
  5. Hallo Fran,
    ich bin zumeist stille Leserin bei dir, und das schon seit Jahren. Jetzt bin ich aber extra nochmal zum Post zurückgekommen um dir zu schreiben, dass mir deine Worte unglaublich gut getan haben.
    Ich werde dieses Jahr 57 und bin eigentlich froh, mal die "Fittiche ein bisschen hängen lassen zu können". Anfangs, nachdem die Wechseljahre nicht mehr so wild waren, gelang mir das auch, aber dann kamen, wie du ja auch erwähnst, immer mehr Hinweise darauf, dass man doch gefälligst gerade jetzt noch rauszuholen hat, was rauszuholen ist. Figur, Haut, Laune, Gehirn, besser essen, weniger essen, nicht das Falsche essen, nicht zu jeder Uhrzeit essen... und ich habe mich tatsächlich davon triggern lassen.
    Nachdem du das jetzt hier mal so ganz plakativ zusammengefasst hast, weiß ich wieder, was ich möchte und was nicht. Gut und so gesund wie möglich genießen, egal ob es sich um Menschen, Lebensmittel oder Zeit handelt, und einfach leben, so wie es meinem nicht mehr ganz taufrischen Körper möglich ist.
    Ich danke dir :) und wünsche dir alles Gute!
    Gabi

    AntwortenLöschen
  6. Du bist 59, ich bin 66, aber in diesem Sinne sprechen wir die gleiche Sprache. Besonders nach meinem Herzstillstand vor 4 Jahren ist die Dankbarkeit, am Leben zu sein, sehr gewachsen. Das Wichtigste ist, am Leben zu sein und Freude an meinem Sohn, meinen Enkelkindern, meiner Familie und meinen Freunden zu haben. Das Leben so zu genießen, wie es für mich ist, mit allen körperlichen Schwierigkeiten, die das Alter mit sich bringt, denn nichts im Leben ist selbstverständlich!
    Liebe Grüße,
    Claudia

    AntwortenLöschen
  7. Treffend auf den Punkt gebracht. Ich bin nach etwas, was je nach Arzt als "Burnout, Erschöpfungsstörung oder depressive Verstimmung" gelabelt wurde, in der Wechseljahres-Community auf Instagram gelandet. Das war ein Segen, denn aufgrund der bioidentischen Hormone bin ich seelisch wieder stabil. Um stabil zu bleiben, musste ich diese Community allerdings auch recht schnell wieder verlassen. Sehr naiv war ich davon ausgegangen, dass ich als "gestandene Frau" dem Optimierungswahn, der mich als junge Frau genervt hatte, irgendwas entgegenzusetzen gehabt hätte. Aber nein. Es hat mich voll erwischt. So dass ich irgendwann dachte: Okay, ich nehme jetzt zwar bioidentische Hormone, aber ich muss trotzdem Unsummen für Nahrungsergänzungsmittel (und die entsprechenden Blutuntersuchungen) ausgeben, dazu unglaublich gesund essen und zum Leistungssportler werden. Meinen Körper liebe ich natürlich so wie er ist, aber aus Liebe zu meiner Gesundheit renne ich dennoch mehrmals pro Woche in die Muckibude, sonst bekomme ich trotz aller Anstrengungen und der Hormone Osteoporose.

    Und als i-Tüpfelchen bin ich eine so tolle Meno-Superwoman, die das bisherige Narrativ der Wechseljahre Lügen straft. Das, was da auf Instagram gelebt wird, ist vom realen Leben so weit entfernt wie Putin vom Friedensnobelpreisträger. Ich informiere mich jetzt lieber wieder wie gehabt im Hormongesteuert-Podcast von Dr. Katrin Schaudig und genieße mein normales Leben.

    LG A.

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen

Dieser Blog ist mit Blogspot, einem Googleprodukt, erstellt und wird von Google gehostet. Es gelten die Datenschutzerklärung & Nutzungsbedingungen für Googleprodukte.

Wenn Du die Kommentare zu diesem Beitrag durch Setzen des Häkchens abonnierst, informiert Dich Google jeweils durch eine Mail an die in Deinem Googleprofil hinterlegte Mail-Adresse.
Durch Entfernen des Hakens löscht Du Dein Abbonement und es wird Dir eine entsprechende Vollzugsnachricht angezeigt. Du hast aber auch die Möglichkeit Dich in der Mail, die Dich über einen neuen Kommentar informiert, über einen deutlichen Link wieder abzumelden.

Beliebte Posts aus diesem Blog

Besser spät als nie: Was ich im September gelernt habe

Herbst: Mit Regen, Sonne und einer neuen Lieblingshose

Die Kleiderstange: Das Wetter schreit nach Strick und Leder