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Chillen verboten?




Beschwert euch bitte beim Wetter und bei der Jahreszeit darüber, dass es hier schon wieder nichts zum Anziehen gibt ;-) Wenn ich denn endlich mal Zeit hätte, Fotos zu machen, ist es draußen dunkel. Oder es regnet. Also müsst ihr hier weiterhin lesen, was mir gerade durch den Kopf geht. Und zu denken gibt mir eigentlich täglich irgendetwas. In diesem Fall war es ein Satz in Nicoles Dezember-Rückblick. Ich lese eigentlich alles, was Nicole bloggt - und liebe es.

Unter dem Punkt „Gab es Ärger“ schrieb sie folgenden Satz: „Dass ich mich oft verdaddelt habe, anstatt etwas ‚Richtiges‘ zu tun. Das macht aber manchmal den Kopf einfach frei“. Und im ersten Teil dieses Gefühl habe ich mich sofort wiedererkannt. Zumindest mein altes Ich.


Immer, wenn ich für meine Begriffe „Zeit verdaddelt“ habe, habe ich mich über mich selbst geärgert. In der Zeit hätte ich doch etwas Nützliches tun können! Etwas, das einen Wert hat. Arbeiten etwa. Oder wenigstens für Ordnung in der Wohnung sorgen. Die Pflanzen auf der Terrasse gucken mich auch schon ganz traurig an. Und da wäre noch dieser Stapel Papier im Posteingangskorb.


Daraus folgte, dass ich eigentlich kaum noch Zeit verdaddelte. Jede Minute des Tages musste irgendwie genutzt werden. Und das wurde quasi zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Irgendwann ging es mir nämlich so, dass ich überhaupt keine Minute mehr untätig war - das schlechte Gewissen ließ vielmals grüßen. Daraus resultierte, dass ich mir einige Jahre lang einen profanen Roman nur noch im Urlaub zu Gemüte führte. Und selbst da war ich so tief im „ich muss was tun“-Rausch, dass ich zum Lesen keine Ruhe mehr fand.


Erwischte ich mich tatsächlich beim faulenzen, rief ich mich selbstredend sofort zur Ordnung und pickte mir eine Aufgabe von meiner nie endenden To-do-Liste. Da stand ja genug drauf. Wohin das geführt hat, wisst ihr alle. Direkt in den Burnout.


In den ersten Monaten, als ich auf den Therapieplatz gewartet habe, habe ich dann das Lesen wieder gelernt. Ok, die Sache mit den Buchstaben und den Wörtern war mir durchaus noch geläufig, aber mir die Zeit zu gönnen, ein Buch zu lesen, war Schwerstarbeit. Das ging in den ersten Wochen 10 bis 15 Minuten lang gut, dann hatte ich das Gefühl, ich müsse „etwas Richtiges“ tun. Mein Haushalt war selten so in Schuss wie zu dieser Zeit…


Und erst in der Tagesklinik habe ich tatsächlich gelernt, dass ich auch einfach mal daddeln darf, dass ich nicht ständig etwas „Richtiges“ tun muss, um meine Existenz irgendwie zu rechtfertigen. Mein Therapeut meinte irgendwann, das Wort „chillen“ sei vermutlich nur geprägt worden, weil in Deutschland „faulenzen“ einen elend negativen Beigeschmack hat und diese durchaus wertvolle Tätigkeit daher eben verpönt ist.


Die eine oder andere von euch wird dieses schlechte Gewissen, „nichts Richtiges“ zu tun, vermutlich kennen. Entstanden ist es vermutlich in meinem Fall in den Sechzigern, als ich ein Kind war. Damals war es eben selbstverständlich, nicht auf der faulen Haut zu liegen. Das ging gerade mal am Sonntag, aber da musste auch noch der Kirchgang, das Mittagsmenü, der Sonntagsspaziergang und das Kaffeetrinken mit selbstgebackenem Kuchen untergebracht werden. Und weil man ohnehin ständig mit Haus und Hof zu tun hatte, war faul sein einfach nicht drin. So verständlich mir das heute ist, so schade finde ich es, dass ich das derart verinnerlicht habe. So sehr, dass ich irgendwann meine eigenen Bedürfnisse gar nicht mehr kannte. Ich hatte sie ja lange genug völlig ignoriert.


Und das rückgängig zu machen ist gar nicht so einfach. Ohne Klinik und ohne Therapeuten hätte ich das vermutlich auch nicht geschafft. Und selbst mit beidem hat es ein Jahr gedauert, um tatsächlich zu wissen, was MIR wirklich Spaß macht (und nicht nur das Gefühl gibt, etwas „Richtiges“ getan zu haben) und was ICH brauche. Aber ich kann es. Wenn ich nich zusammenreiße.


Gestern abend lag auf dem Sofa und las ein Buch. Kein Fachbuch. Einen Roman. Nichts „Richtiges“ also. Gestern früh habe ich nach dem Schwimmen einfach so in der Lounge gesessen, habe einen Kaffee getrunken und nach draußen geguckt, wo ein Fischreiher auf Jagd ging. Einfach so. Nichts „Richtiges“. Insgesamt also mindestens 90 Minuten für die Katz.


Und es gibt sie immer noch die Momente, in denen ich denke „Das geht doch so nicht“. Doch, genauso geht es. Genauso muss das sein. Denn wie Nicole schon sagt: Das macht den Kopf frei. Und mit einem freien Kopf ist so eine To-do-Liste kein großer Schrecken mehr. Weil man nämlich dann auch Dinge einfach runterwerfen kann, die nicht sein müssen.


Und was ich noch fragen wollte: Kennt ihr das Gefühl?


Liebe Grüße

Fran

Kommentare

  1. Nö, das Gefühl kenne ich eher nicht. Ich liebe Ruhe, Lesen und Netzrunden. Klar verwandeln ich mich auch mal, aber das finde ich nicht schlimm. Das erlaube ich mir.

    Es ist eher so, dass es Menschen gibt, die mich langweilig finden, weil ich nicht ständig etwas tun "muss". Deshalb gehe ich nämlich einige Verabredungen abends nicht ein, weil mir die zu viel wären. Zeit zum Schlafen ist mir nämlich heilig.

    Schöne Lesestunden wünscht Dir
    Ines

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  2. Mir ging bzw. geht es genauso, seit Jahrzehnten. In den letzten Monaten musste ich schmerzhaft lernen, mir Pausen ohne schlechtes Gewissen zu gönnen. Vielen Dank für diesen tollen Blog.

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    1. Danke für den tollen Kommentar! Du scheinst die gleiche Lernerfahrung gemacht zu haben wie ich. Und weißt du was? Wir schaffen das!

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  3. Noch gestern haben wir uns mit einem Bekannten unterhalten, der gerade von der Akkupunktur kam. Er macht's, weil er die Ruhe währenddessen genießt. Da hat man es... man gönnt sich nicht mal die Zeit zum Arzt zu gehen, weil... schade um die Zeit, du muss da sitzen und warten. Gestern Abend habe ich mir tatsächlich die Zeit zum Zeitung lesen genommen. Ok, danach um 20.00 ging's los mit Schubladen aufräumen (damit der tag nicht vergeudet wird 😅). Ich wünsche dir eine entspannte Restwoche und sende liebe Grüße!

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    1. Dir auch eine entspannte Restwoche - ohne Schubladen! Denn das Gute an den Schubladen: die rennen nicht weg. Ganz sicher nicht. Hier liegen noch drei ungelesene Spiegel-Ausgaben. Die "müsste" ich auch noch durchackern. Aber ich glaube, sie ziehen ins Altpapier.

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  4. Mmmh, in dieser Hinsicht bin ich wahrscheinlich bevorzugt: ich kriege geradezu Aggressionen, wenn irgendwas unbedingt gemacht werden muss, weil es so üblich ist, oder weil man nicht untätig rumsitzen kann, oder weil jemand anderes schief gucken könnte etc. pp. Ich bremse es aus, wo es geht. Und ähnlich wie Ines, finde die Leute den Umgang mit mir wahrscheinlich wenig ergiebig.
    Die Feststellung des Therapeuten zwischen "chillen" und "faulenzen" finde ich übrigens großartig auf den Punkt gebracht.
    Mir fiel letztens übrigens noch der Unterschied zwischen der früheren "Kur" und der heutigen "Reha" auf. Schon der Wortklang...!
    Entspannte Lesestunden wünscht
    patricia.s

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    1. Ich finde den Umgang außerordentlich ergiebig! Von euch kann man definitiv was lernen. Ohne Ahnung zu haben: Ist Kur und Reha das Gleiche? Ich dachte immer, es heißt Reha, wenn es die Rentenversicherung zahlt und Kur, wenn es die Krankenversicherung zahlt. Hüstel. Keine Ahnung, ob das auch nur ansatzweise stimmt. Und ja, Reha klingt nicht schön. Klingt nach Arbeit.

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    2. Ich habe auch keine wirkliche Ahnung, aber kenne in letzter Zeit nur Leute, die in die Reha gesteckt wurden, damit es weitergeht. An den Ursachen ändert sich dabei meist nüscht.
      LG Patricia.s

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    3. Ja, das ist ein echtes Problem. Die Menschen werden fit gemacht für den Arbeitsplatz. Anstatt den Arbeitsplatz für die Menschen fit zu machen...

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  5. Klar kenne ich das und das ewig schlechte Gewissen. Ich arbeite daran, so zu werden wie Ines, zumindest in meiner Freizeit. Das ist ganz schön Arbeit, wenn Du ein Umfeld hast, dass immer wenn es Dich erblickt eine Frage, Aufgabe oder sonstwas für Dich hat. Wenn ich da meine Freizeit und mein chillen nicht vehement verteidigen würde, wäre ich längst völlig gaga. Andere sind im delegieren einfach besser als ich und ich lerne seit einiger Zeit das Nein sagen.
    Liebe Grüße Tina

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    1. Oh ja, das ist Arbeit. Ein Grund, weshalb ich freudestrahlend das Haus verkauft habe. Im Dorf konnte ich nichtmal mit dem Hund Gassi gehen, ohne dass mich fünf Menschen wegen irgend einem Kram angesprochen haben. Und sonntags klingelten sie gern um acht, um wahnsinnig wichtige Dinge vorbeizubringen. Nerv. Es war nicht möglich, sich dagegen nachhaltig zu wehren. Die Menschen waren da völlig distanzlos, in deren Augen war ich immer im Dienst.

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  6. Ohne chillen würde bei mir nichts funktionieren. Wenn ich nicht genügend Pausen einlege werde ich krank und unausstehlich. Und mein Mittagsschlaf ist mir heilig. Selbst beim Kampfputzen am Wochenende brauche ich zwischendurch mal ne kleine Pause.

    Liebe Grüße Sabine

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    1. Mittagsschlaf ist bei mir echt gefährlich. Der artet immer aus, egal ob ich einen Wecker stelle oder nicht. Wäre toll, wenn ich es schaffen würde, ihn auf 30 Minuten zu begrenzen. Schaffe ich aber nicht.

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  7. Danke fürs Erwähnen und dass du meinen Blog liebst... Ich deinen aber auch.. Kurz: habe mich RICHTIG gefreut.
    Ich hatte das ja schon auf deinen (besonders guten) Kommentar bei mir beantwortet, dass du absolut Recht hast.
    Manche Dinge muss man aussprechen und lesen, dann plumpsen Teile mal wieder an die richtige Stelle.

    Und darum, ja, wir machen immer etwas vernünftiges. Denn es ist vernünftig, den Kopf frei zu haben.
    In diesem Sinne freie und liebe Grüße
    Nicole

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    1. So ist es. Wer den Kopf frei hat, ist weit produktiver.

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  8. Hallo Fran, „Lesen ist, dem lieben Gott die Zeit stehlen“, mit solchen Sprüchen ist meine Mama aufgewachsen… sie hat sich dann als junge Mutter mit vier Kindern einfach ihre Zeit genommen und das Leven genossen. Sie ist jetzt 96 Jahre alt und mein absolutes Vorbild in sich selbst verwöhnen. Es war nicht immer leicht für uns Kinder… aber sie hat ihr Leben größtmöglich genossen.
    Die Muße pflegen - ist eine Lebenskunst!
    Herzliche Grüße
    Susa

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    1. Aua, der Spruch ist hart. Dass deine Mutter es trotzdem ganz anders gemacht hat, verdient absolute Anerkennung. Finde ich großartig!

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  9. Das „Leben genossen“ Bitte korrigieren!

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  10. Das Chill-Verbot hat mir eine Depression beschert mit Klinikaufenthalt, Psychotherapie und allem Pipapo.
    Es hat zwar gedauert, aber ich habe daraus gelernt (und lerne immer wieder dazu).
    Einfach mal nein oder stop sagen .... und chillen :-)
    Deine weitere Lebensplanung finde ich übrigens sehr spannend und lese gerne hier mit.

    Uschi aus Bayern

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    1. Hey, wir können lernen! Und besser eine Depression mit anschließender Weisheit als nix!

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  11. Ja, ich kenne diese Situation mehr oder weniger, ich bin dafür bekannt, immer in der Steckdose zu sein! Das „Nichtstun“ musste ich aufgrund eines Herzstillstands sehr langsam selbst lernen! Aber seltsamerweise fand ich früher immer Zeit zum Lesen - im Bett statt zu schlafen! ;) Heute lese ich nicht mehr so wie früher, aber ich habe meine Hobbies, die mich sehr beruhigen!
    Liebe Grüße,
    Claudia

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